Bei Rumegies überquerte ich die Grenze nach Frankreich. Wie auch bei den anderen Ländern zuvor (Niederlande und Belgien) kam ich über Nebenstraßen oder Radwege ins Land und merkte den Grenzübergang kaum. Ich kam in die Region Scarpe-Escaut. Die sieht nicht nur auf der Karte sehr grün aus und ich dachte mir hier einen Platz zum Zelten zu finden. Ich landete dann bei einen offiziellen Zeltplatz und konnte dort sehr günstig und ruhig übernachten. Mit dem Platzwart verstand ich mich problemlos. Ich war erstaunt wie einfach meine erste französische Konversation in Frankreich ablief.
Meine Route erfand ich jeden Tag neu und so hatte ich auch keinen festen Plan wie ich durch Frankreich fahre. Ich stieß dann auf den „Canal du Nord“. Hier ließ es sich wunderbar radeln. Ich folgte dem Kanal, dessen Straße nur Versorgungsfahrzeuge benutzen durften. Somit hatte ich den Weg für mich allein. Allerdings hörte ich hier und da Schüsse. Mir fielen dann die Leute in orangen Jacken auf, die mit Gewehren übers Feld liefen. Die Schüsse waren auf meiner Tour durch Frankreich sehr häufig zu hören. In allen Gebieten durch die ich kam war irgendwie gerade Jagdsaison.
Dadurch hatte ich oft Bedenken wild zu zelten. Ich positionierte mein Zelt so, dass ich gut zu sehen war und habe mich nicht wirklich versteckt, sondern einfach nur abgelegene Gebiete aufgesucht. Ich übernachtete in der Nähe des Canal du Nord auf einem Feld. Vorher hatte ich Schilder entdeckt, auf denen Stand das in diesem Gebiet nur tagsüber von 9 bis 17 Uhr gejagt wird. Auf dem offenen Feld war es sehr windig, aber die Nacht blieb ruhig. Als ich am nächsten Morgen mein Zelt abbaute, kam jemand vorbeigefahren. Er hielt an und fragte mich ob es kalt letzte Nacht war und ob ich gut geschlafen hätte. Er meinte das ernst und ich fand das total nett.
Ich folgte weiter dem Canal du Nord, der in den Fluss „La Somme“ mündete. An der Somme führt ein Radweg entlang, dem ich nach Amiens folgte. Mir gefiel dieser Weg. Es war wie auch am Canal du Nord, sehr grün und es gab kein Autoverkehr. In Amiens kam ich das erste Mal auf meiner Tour bei einem Warmshower-Host unter. Er heißt Jean-Noel. Wir hatten vorher telefoniert, aber auf Französisch weil sein Englisch nicht so gut ist. Er hat schon viele Radreisende gehostet und er war ein prima Gastgeber. Er ist auch durch Deutschland gefahren und war mehrmals in Berlin. Als wir dann Abendbrot hatten, unterhielten wir uns nur auf Französisch (was bei mir allerdings nur für einfache Dialoge reicht). Er empfahl mir dann weitere Hosts in Frankreich zu kontaktieren, um mein Französisch zu verbessern. Er sagte ungefähr „Quand tu fais camping a la foret il n’a y personne pour parler ou tu veux parler avec les arbres“. Was bedeutete, wenn du im Wald zeltest, ist keiner da zum reden oder willst du mit den Bäumen reden. Darüber musste ich lachen.
Er hat schon Recht. Aber ich find es schwierig unterwegs Warmshower-Hosts zu finden, da ich erstmal Internetzugang brauche und wissen muss, wann ich ankomme oder in welche Richtung ich überhaupt fahre. In Amiens entschied ich mich weiter der Somme zu folgen. Das Radfahren am Fluss war so einfach und entspannt. Außerdem sah ich, dass die Somme zur Normandie führt und von dort kann ich der Eurovelo Route 4 folgen. Zuvor hatte ich noch überlegt ob ich von Amiens direkt nach Mont St-Michel fahre. Doch das war mir zu weit westlich von Paris und ich wollte mich nicht stressen.
An der Somme gibt es hübsch angelegte Rastplätze. Auf so einem Platz übernachtete ich auch mal. Als ich dann bei Le Hourdel das Meer erreichte, sah ich erstmal außer Nebel nichts. Der Nebel lichtete sich später. Blauer Himmel und Sonnenschein gab es in Cayeux sur Mer, doch ein paar Kilometer weiter in Ault war wieder dichter Nebel. So wechselten sich weiße Nebelwände und blauer Himmel mehrmals am Tag ab. Besonders Eindrucksvoll war das Naturschauspiel in Le Tréport. Hier gibt es einen guten Aussichtspunkt und hier konnte man sehen wie der Nebel blitzschnell kam und wieder verschwand.
Nachdem meine Strecke bisher komplett flach war, ging es in der Normandie teils hoch und runter. Die Küste wird durch Täler durchschnitten (Valleuse). Manchmal, wenn der Anstieg steil war und ich nur langsam voran kam, dachte ich mir „Es ist zwar anstrengend, aber ich bin sehr froh das mir diese Anstrengungen widerfahren“. So wie ich auch auf der ganzen Tour einfach glücklich war, darüber gesund zu sein und wieder so intensiv Reisen zu können. Nun war ich 4 Wochen unterwegs und es kam mir wie eine Ewigkeit vor. Das letzte Jahr, wo ich in Berlin war, hatte ich schnell vergessen.
In Berneval-le-Grand fand ich einen kleinen Zeltplatz. Zuerst dachte ich er wäre schon geschlossen. Doch der Patronne kam gerade und als ich ihn fragte wie viel das kostet, sagte er „pas cher“ (nicht teuer). Die Nacht kostete nur 6,70 €, inklusive warme Dusche und kostenloses WiFi. Der andere Platz, wo ich die erste Nacht in Rumegies übernachtet habe, war auch so günstig. Da lohnt sich wild zelten kaum. Aber ich mache das nicht nur um Kosten zu sparen, sondern weil ich das Abenteuer suche und noch mehr mit der Natur verbunden sein möchte. Der nächste Platz war wieder sehr abenteuerlich. Ich fand eine kleine Straße die durch ein Mini-Tal zur Küste führte. An den Hängen weideten Kühen. Die Straße endete auf einem ehemaligen Parkplatz. Dieser durfte nicht mehr benutzt werden, weil er absacken könnte. Ich zeltete einfach außerhalb der Gefahrenzone und war mir sicher, dass sich hier keiner weiter verirren würde. Als ich morgens mein Zelt abbaute, kam dann der Bauer vorbei und hat mich gefragt ob ich gut geschlafen habe. Das war auch wieder sehr nett und ich freue mich jedesmal, wenn ich die Leute verstehe und sie mich.
Ich habe den Ratschlag von Jean-Noel befolgt und in Le Havre einen Warmshower-Host gefunden. Besser gesagt zwei. Maxime und Lou beherbergten mich in ihrer Wohnung am Hafen. Beide sind genauso alt wie ich und wir redeten Französisch-Englisch gemischt. Sie waren schon mehrmals in Deutschland und hatten keine Scheu deutsche Wörter zu benutzen die sie unterwegs aufgeschnappt haben. Es war sehr lustig, besonders ihre Interpretation von „Pütenschnitzel“ (was sie immer mit dem französischen Wort „putain“ in Verbindung brachten). Wir tauschten uns über die Eigenheiten von Franzosen und Deutschen aus.
Ich blieb zwei Nächte und bekam eine Stadtführung. Le Havre wurde im zweiten Weltkrieg fast vollständig zerstört und dann von dem Architekten Auguste Perret neu geplant. Er ließ breite Boulevards und lange Straßenachsen bauen, die von Häusern in getöntem Beton mit klarer, einfacher Ornamentik und Kolonnaden gesäumt werden. Also viel Betonarchitektur. Dazu noch ein Kulturzentrum von Oscar Niemeyer, was auf den ersten Blick aussieht wie ein Schornstein von einem Kohlekraftwerk, darin verbirgt sich eine moderne Bibliothek und Theater. Lustig waren die blauen Pfeile auf den Gehwegen auf denen ein Hund abgebildet ist. Die Hunde sollen auf die Straße und nicht auf die Gehwege pinkeln. Meine Gastgeber meinten Le Havre sieht aus wie eine kommunistische Stadt aus Sowjetzeiten. Zum Abschied gab ich Maxime mein Garmin GPS, was ich nicht mehr benötigte. Für ihn war das ein tolles Geschenk da er Geographie studiert hat und sich mit OpenStreetMap beschäftigt.
Es war Sonntag als ich von Le Havre aus weiter fuhr. Ich fuhr durch das große Hafengebiet und das dahinterliegende Naturschutzgebiet. Die breiten Straßen hatte ich ganz für mich allein, es war ein tolles Gefühl. Anschließend folgte ich der Seine Richtung Rouen. Unterwegs fand ich wieder ein festes Quartier bei einem Warmshower-Host. Ich bekam sogar ein kleines Häuschen für mich allein. Mein Host war früher Kapitän. Er hat sehr früh Karriere zur See gemacht. Nun arbeitet er als Lotse auf der Seine. Seine Frau kochte ein Zuchini-Auflauf und ich konnte mich satt essen. Am nächsten Morgen begleitete er mich noch bis nach Rouen, wir folgten einem Radweg an der Seine und den schlangenförmigen Flusslauf. Auch wenn ich Rouen nur kurz gesehen habe, hat mir die Stadt sehr gefallen. Ich fuhr dann an der Seine weiter bis Vernon. Von hier aus folgte ich den Radweg „Avenue Verte London Paris“.
Bevor ich Paris erreichte, zeltete ich nochmal eine Nacht auf einem Feld. Es war die letzte Nacht in meinem grünen Exped-Zelt, nach 5 Jahren ersetze ich es und habe für Neuseeland ein neues Zelt. Ich hatte Befürchtungen gehabt, dass es sehr schwierig wird nach Paris einzufahren, doch auf der ausgeschilderten Route kam ich über ruhige Nebenstraßen nach Paris rein. Als ich den „Forêt domaniale de Saint-Germain-en-Laye“ erreichte, machte ich Mittagspause und rief Pierre-Emmanuel an. Ich hatte ihn und seine Freundin Marie-Clement auf meiner Radreise von Berlin nach Singapur kennengelernt. Sie waren zusammen ein Jahr mit dem Rad unterwegs und wir hatten uns in Trabzon (Türkei), Dubai und Mumbai getroffen. Nun, vier Jahre später, trafen wir uns in Paris. Sie haben ein Apartment in guter Lage, nicht weit vom Montmatre entfernt. Sie überließen mir ihr Schlafzimmer. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, da ich unterwegs sehr viele Obdachlose gesehen habe und ich so eine nette Unterkunft gefunden habe.
Die allgegenwertige Obdachlosigkeit beschäftigte mich die ganze Zeit während ich in Paris war. Eigentlich bin ich es ja von Berlin gewohnt (und vielen anderen Großstädten die ich besucht habe), dass Menschen auf der Straße leben. Doch in Paris empfand ich die Situation viel krasser. Vor allem der Kontrast von arm und reich. Man läuft eine prunkvolle Straße entlang und ein, zwei Straßen weiter schlafen Menschen auf den Gehwegen. Ja einfach überall, in den Hauseingängen, Brücken, an der Seine, U-Bahnhöfen… Ich sah viele Zelte, eine große Gruppe von Flüchtlingen rund um die Station Stalingrad (die wurden später von der Polizei vertrieben). Die slumähnliche Behausungen, wo Sinti und Roma leben, fand ich auch krass. Die haben sich einfache Hütten mitten in der Stadt gebaut. Der Ort wurde schonmal von der Polizei geräumt, aber es sieht dort immer noch so aus wie in dem Vice-Artikel zu sehen. Dazu Ghettosiedlungen, mit großen, grauen Betontürmen. Da passt dieses Bild von Paris als Stadt der Liebe, als romantischer Ort nicht so recht. Es sei denn man geht nur zu den Sehenswürdigkeiten und blendet den Rest aus.
Meine Gastgeber waren super nett und setzten mir den besten Käse und Baguette vor. Noch besseres Brot gab es bei meinem Freund Francois. Wir hatten uns auch vor vier Jahren auf meiner Radreise getroffen und zwar in Indien. Er war damals 2 Jahre lang unterwegs. Nachdem Francois nach Paris zurückgekommen ist, hat er Bäcker gelernt und eine Bäckerei eröffnet. Dabei hat er sich auf das gute (deutsche) Sauerteigbrot spezialisiert. Ich hatte dann auch die Ehre einige Nächte in seiner Bäckerei zu schlafen. Abends lud er Marie und Pierre ein. Wir waren ja alle für ein paar Tage gemeinsam in Indien unterwegs. Es gab selbstgemachte Pizza. Ich glaube den Ausdruck „la pate est super bonne“ werde ich nie vergessen, so oft wie das an diesem Abend gesagt wurde. Da ich recht früh in Paris angekommen bin, 10 Tage vor meinem Abflug, hatte ich auch noch Zeit meine „Froggies“ Pierre und Elodie wiederzusehen. Wir hatten vor 3 Jahren zwei Monate lang zusammen Zitronen in Australien geerntet. Sie haben mittlerweile geheiratet und Nachwuchs ist auch schon unterwegs.
Francois hatte für mich einen Fahrradkarton und fuhr mich noch in seinem VW Polo am 13.11. zum Flughafen. Ich erinnere mich noch gut, wie eingezwängt wir da im Auto saßen. Damit der Karton reinpasste, mussten wir die Sitze ganz nach vorne stellen und hatten null beinfreiheit. Vor meinem Abflug gab ich ihm mein altes Zelt, GoPro und einen Ortlieb-Sack. Er ist gut mit anderen Radreisenden vernetzt und hat eine „Foundation“ wo er die Dinge anderen Radlern ausleiht. Als ich beim Check-in mein Fahrrad aufgab, fragte mich die Dame plötzlich in Deutsch „Ist die Luft raus?“. Sie konnte fließend Deutsch und war super nett. Ich flog mit Singapore Airlines nach Neuseeland (von CDG nach CHC) und hatte mein bis dahin komfortabelsten Langstreckenflug. In Neuseeland werde ich ein Jahr work & cycling machen. Das war mein großer Traum, als ich vor einem Jahr das Laufen und Radfahren wieder neu lernen musste.